März 2016. Der sogenannte EU-Türkei-Deal wird verabschiedet. Bei einem Deal geht es nicht um solidarische Hilfe, sondern um einen knallharten Tauschhandel.
Es geht in diesem Deal darum, Menschen wie Gegenstände, wie leblose Materie herum zu schieben – weil sie als störend empfunden werden, weil man sich das Genießen des eigenen, auf globaler Ausbeutung beruhenden, Wohlstands nicht vermiesen lassen möchte.
Was heißt das genau? Syrer*innen sollen nicht nach Europa kommen. Sie sollen in der Türkei bleiben. Dafür gibt es Geld von der EU, ganze sechs Milliarden. Vordergründig um Unterstützungsarbeit in der Türkei zu finanzieren.
Währenddessen werden Menschen tagtäglich zur Flucht gezwungen. Auch wenn man sich das in einem beschaulichen Ort wie Tübingen vielleicht nicht vorstellen kann: Aber Menschen lassen nicht ohne Grund ihr Zuhause, ihre Freund*innen und ihre Familien zurück. Sie tun dies, weil sie keine andere Möglichkeit mehr sehen. Sie nehmen dabei die grauenhaften Gefahren der Flucht auf sich und sie gehen das Risiko ein, die Flucht nicht zu überleben. Sei es nun im Mittelmeer zu ertrinken, oder an der türkisch-griechischen Grenze erschossen zu werden. Jene, die es über die Grenzen Europas schaffen, werden für die langen Strapazen damit belohnt, in völlig überfüllten Lagern zu landen.
Flucht lässt sich nicht verbieten und lässt sich auch nicht durch noch so perfide Deals einfach rückgängig machen – auch wenn deutsche Politiker*innen in diesen Tagen wieder über eine Erneuerung des Abkommens beraten.
Und warum funktioniert das nicht? Weil die momentane grauenhafte Einrichtung der Welt strukturell Leid und Unrecht fabriziert. Weil die Zeit des Kolonialismus eine geteilte und auf Unterdrückung und Plünderung beruhende Welt geschaffen hat. Weil das globale, auf Profit ausgerichtete Wirtschaftssystem zwar etwas weniger offensichtlich aber nicht weniger wirksam, dieses koloniale Erbe nutzt. Weil zugelassen wird, dass Erdoğan emanzipatorische Projekte von Kurd*innen in Nord-Syrien militärisch angreift und damit noch mehr Menschen zur Flucht zwingt.
Ende Februar 2020 öffnet Erdoğan die Grenzen zur Europäischen Union, um noch mehr Gelder für die Türkei herauszuschlagen. Wieder werden Menschen wie Ware behandelt, die EU spricht davon, sich nicht erpressen zu lassen und von einer Chance, gemeinsam die europäischen Grenzen zu verteidigen.
Die Frage stellt sich, gegen wen die Grenzen verteidigt werden sollen?
Es klingt, als wäre eine der EU feindlich gesinnte Armee auf dem Vormarsch. Die Akteur*innen der EU bedienen sich hierbei einer Rhetorik, die von Invasion und Flut handelt. Mit diesen populistischen Stilmitteln werden Menschen, die durch Krieg und Hunger aus ihrer Heimat vertrieben wurden, zu einer Bedrohung Europas stilisiert. Die Leidtragenden stehen im März vor der griechischen Grenze.
Aus der Türkei heißt es: „Verschwindet von hier, wir wollen euch nicht durchfüttern!“ und aus der EU schallt es heraus: „Wir können nicht allen helfen!“. Diese Worte werden begleitet von Tränengas und Knüppeln. Mindestens ein Mensch wurde erschossen. Mohammed Yaarub aus Aleppo stirbt am 2. März auf der Westseite der Grenze.
Die Lage spitzt sich aber nicht nur an den Grenzen zu, sondern auch auf den griechischen Inseln. Rassistische Kräfte aller Couleur versammeln sich und strömen auf die Insel, um Geflüchtete und Mitarbeiter*innen von NGOs anzugreifen.
Am 19. März schließt die Türkei die Grenzen wieder. Über 40.000 Menschen wurden von der griechischen Regierung vom Grenzübertritt abgehalten, mehrere Hundert, denen dies gelang, wurden verhaftet.
Wieso? Vordergründig wird der Ausbruch der „Corona“-Epidemie genannt. Im Hintergrund ist der Grund wahrscheinlich sehr viel simpler. Zwei Tage zuvor wurden der Türkei mehr finanzielle Hilfen und weitere Gespräche in Hinblick auf die angestrebte Zollunion zugesichert. Ein perverses politisches Ränkespiel, ausgetragen auf dem Rücken von Zehntausenden Schutzsuchenden findet seinen Abschluss.
Und jetzt? Die Meldungen über Geflüchtete sind aus den Medien verschwunden. Kaum jemand berichtet noch über die Zustände in Moria und anderen Lagern. Die „Corona“-Pandemie überschattet alles Andere. Während sich der deutsche Staat auf eine zunehmende Anzahl von schwer erkrankten „Corona“-Patient*innen vorbereitet, werden die Geflüchteten allein gelassen.
Viele Helfer*innen sind auf Grund der rechtsradikalen Übergriffe abgereist. Viele Weitere auf Grund der Pandemie. Die Geflüchteten aber sitzen fest. In einer Zeit, in der davon gesprochen wird, dass Abstand halten und regelmäßiges Händewaschen Leben retten wird, sitzen sie in einem Lager ohne genügend Wasser, ohne ausreichende medizinische Versorgung, zusammengepfercht, bis zu neun Menschen in einem Container. Moria ist schon jetzt die Hölle und wenn unter diesen Umständen das Virus die Lager erreicht, blicken wir einer Katastrophe entgegen, die das derzeitige humanitäre Desaster noch übertreffen wird.
Wir dürfen nicht zulassen, dass 20.000 und mehr Menschen einfach vergessen, oder schlimmer, wissentlich ihrem Schicksal überlassen werden. Während in Deutschland Versammlungen mit mehr als zwei Menschen verboten und 1.5 Meter Sicherheitsabstand vorgeschrieben werden, leben 20.000 Menschen auf einem Raum, der für 3000 vorgesehen war. Das ist unerträglich.
Das System, in dem wir leben zeigt ein weiteres mal sein wahres Gesicht. Während zu Solidarität aufgerufen wird, werden all jene vergessen, die schon zuvor durch den Kapitalismus ausgegrenzt wurden.